Fiktive Fallgeschichte – Depression – Teil 3

Über mehrere Wochen hatte Frau B. so ziemlich viele angenehme Eindrücke gesammelt. Tatsächlich waren es in einem Monat etwa 90 angenehme Erlebnisse. Und als sie einen Monat nach dem Beginn noch einmal las, was sie vor Wochen geschrieben hatte, fiel ihr auf, dass sie die meisten dieser Erinnerungen vergessen hätte, wenn sie sich nicht bemüht hätte, diese aufzubewahren, was sehr schade gewesen wäre. Denn es tat ihr sehr gut, die Erlebnisse noch einmal zu lesen, weil ihr dabei sehr bewusst wurde, dass sie viele schöne Dinge erlebt hatte, erleben konnte – und noch erleben würde.

Im Alltag fühlte es sich so an, als hätte sich eine Tür für schöne Erlebnisse wieder geöffnet, die irgendwann zugefallen war. Nachdem die unangenehmen Körpergefühle und Depressionen ihr Leben so lange bestimmt hatten, war dies eine für sie sehr wohltuende Entwicklung.

Neue Interaktionsmuster zur Vorbeugung der Depression entwickeln

Es wirkte auf Frau B. so als hätte sie die erste Phase der Therapie vieles in ihrem „Innenbereich“ gut aufgeräumt. So war sie jetzt in der Lage, sich die Erlaubnis zu geben, viel mehr auf sich selbst zu achten als früher. In der nächsten Phase wurde der „Außenbereich“ wichtig, nämlich der Umgang mit anderen Menschen. Vor allem war es ihr wichtig, ihren Umgang mit Menschen am Arbeitsplatz zu verbessern. Es kam ihr am Arbeitsplatz so vor, als würde sie ständig in eine Falle hineintappen, wenn sie ihre Kollegen schnell einmal um etwas bitten würden. Sie tendierte noch dazu, zu häufig automatisch zuzusagen, ohne sich vorher zu überlegen, ob sie etwas Bestimmtes zeitlich tatsächlich leisten konnte oder wollte. Sie wollte zwar ihren Kollegen weiterhin helfen, aber sie wusste: Wenn  die anderen immer wieder mit ihren Problemen zu ihr kamen und automatisch Hilfe erhielten, konnten sie auch nicht lernen, Lösungen unabhängig von ihr zu entwickeln.

Der Psychologe versicherte ihr, dass jede Entwicklung holprig ist und dass Geduld und stetige Bemühungen die Devise sind. Er half ihr, den inneren Zustand genauer zu identifizieren, der immer auftauchte, bevor und während sie automatisch zusagt. In einer hypnotherapeutischen Übung erfand sie einen Charakter für diesen Zustand, als wäre er ein eigenes Wesen. Sie stellte sich dabei eine flauschige Wolke mit großen „Bambi-Augen“ vor, die sich unbemerkt manifestierte und in sie einschlich. Es war merkwürdig, aber sehr hilfreich, dieses Konzept zu entwickeln, vielleicht gerade deshalb, weil die Vorstellung sie häufig ein bisschen schmunzeln ließ. In den folgenden Tagen und Wochen musste sie immer wieder an die flauschige Wolke denken und fragte sich oft, ob sie gerade weit weg oder sehr nah war – oder sich sogar schon wieder in ihren Körper eingeschlichen hatte. Bei der Übung fiel ihr stark auf, dass für die Wolke jede Hilfsbedürftigkeit, die von außen signalisiert wurde, wie ein Notfall erschien. Es wurde nie unterschieden, ob eine Sache dringend war oder warten konnte. Und vor allem wurde der Vorteil für den hilfesuchenden Kollegen nicht mit den Kosten, Nachteilen oder dem Aufwand verglichen, die ihr dadurch entstanden. Dadurch war es nicht möglich, kritisch zu hinterfragen, ob sich eine Zusage für Frau B. selbst lohnte. Eigentlich war es ihre Aufgabe, der flauschigen Wolke eine Grenze zu zeigen, um ihre eigenen Interessen als Gesamtperson zu berücksichtigen.

Auf dieser Grundlage wurde es viel einfacher, eine neue Reaktion einzuüben. Mit dem Psychologen übte sie typische Situationen am Arbeitsplatz. Etwa, ihren inneren Zustand schnell zu identifizieren (also, zu spüren, wann die flauschige Wolke da war) und kritisch auf Abstand zu gehen zu der zur Perspektive, dass es sich um eine Notfallsituation handelt, die ihre sofortige Aufmerksamkeit erforderte.

Sie übte mehrere Sitzungen lang mit dem Psychologen ein, einen neuen inneren Zustand zu erreichen, der sie schützte und bekräftigte. Sie fand eine Körperhaltung und eine Geste, die zu dieser Haltung passte. Natürlich übte sie auch Sätze, die sie in solchen Situationen sagen konnte. Der Psychologe erklärte ihr, es sei ganz wichtig, dass die neuen neuronalen Netzwerke im Gehirn, die für diese neue Möglichkeit stehen, bekräftigt werden und dass dies nur durch Übung geschehen kann. So übte sie es eine Weile lang täglich vor der Arbeit ein, sich ganz bewusst in die neue mentale Haltung zu begeben, in dem sie ihre Augen schloss und sich Zeit gab, über die Punkte aus der Therapiesitzung (vor allem die Wolke und die neue Haltung) nachzudenken. Dann übte sie auch am Arbeitsplatz in den Situationen, die immer wieder spontan auftraten. Sie war überrascht, wie wenig schlechtes Gewissen auftrat, wenn sie sich abgrenzte. Für die Kollegen schien es gar nicht so problematisch zu sein und sie fanden andere Wege, ihre Probleme zu lösen. Wieder eine Bestätigung, dass sie sich so viel unnötige Mühe gegeben hatte! Das Bekräftigende und Schützende weckte Körpergefühle in ihr, die eine viel positivere Qualität hatten als die Gefühle, die sie während der Depression gehabt hatte: Sie spürte eine Weitung im Körper, eine Leichtigkeit im Atmen, das Gefühl, größer zu sein und die Füße fest auf dem Boden zu haben … Auch so konnte sie immer wieder Erlebnisse für ihr Tagebuch guter Momente sammeln.

Ausklang der Therapie

Es ging Frau B. durch das bereits Erlernte so viel besser, dass sie nicht mehr den Eindruck hatte, die Therapie zu brauchen. Sie fühlte sich stark und hatte den Eindruck, wirklich gut beurteilen zu können, was es brauchte, damit es ihr auch in Zukunft dauerhaft besser gehen würde. Sie besprach diesen Eindruck mit dem Psychologen, der das sehr begrüßte. Sie nutzten die letzten Stunden, um die weitere Anwendung der gelernten Kompetenzen zu besprechen und einzuüben.

Frau B. kam dann einige Monate lang nur noch alle zwei, dann nur alle drei bis vier Wochen zur Therapie, wodurch ihre Erlebnisse zu einem Dauerprojekt wurden. Es tat ihr sehr gut, auf diese Art und Weise den Fokus immer wieder auf die nötige Selbstfürsorge zu lenken. Als sie entschied, keine Therapiestunden mehr zu vereinbaren, waren noch zwölf genehmigte Therapiesitzungen offen. Der Psychologe schlug ihr vor, dass sie sich gern bei Bedarf wieder melden und darauf zählen konnte, dass sie – falls er nicht im Urlaub war – innerhalb von zwei Wochen einen Termin erhalten würde. Es war schön, zu spüren, dass sie diese Unterstützung noch erhalten könnte, wenn sie diese brauchen sollte.

Nach der letzten Therapiestunde schrieb Frau B. von sich aus eine Bewertung der Therapie für die „Klientenstimmen“ auf seiner Webseite und bat ihn darum, diese für die bessere Orientierung neuer Klienten zu veröffentlichen. Sie resümierte, dass die Krise der körperlichen Symptome und der Depressionen eine große Chance verborgen hatte, die sie durch die Psychotherapie wunderbar für sich genutzt hatte. Letztendlich war sie froh, dass sie krank geworden war, weil ihr dies den Weg bereitet hatte, ein erfüllenderes und ausgeglicheneres Leben zu führen.