So merkte er am eigenen Leib, dass Gedanken nicht gleich Handlungen sind. Und noch mehr: Je öfter er durch die Konfrontation die Gedanken zuließ, umso weniger drängten sie sich ihm auf und umso seltener dachte er spontan an einen möglichen Mord. Der Unterschied zwischen ihm und den anderen war nicht, dass er selbst gewalttätiger oder psychopathischer war, sondern, dass er solche Gedanken sehr ernst genommen und viel zu viel daraus geschlussfolgert hatte. Der Psychologe erzählte ihm, dass 90 Prozent aller Menschen Gedanken haben, die sie als unsinnig erleben und die nicht zu ihrem Kerncharakter passen. Wenn man diese aber sehr ernst nimmt und ihnen viel Aufmerksamkeit schenkt, dann werden sie sehr bedeutsam. In einer Vorstellungsübung im Rahmen der Therapie konnte Herr A. ein humorvolles Bild entwickeln von ganz normalen Menschen auf der Straße, die Denkblasen über ihren Köpfen hatten, in denen aggressive Gedanken plötzlich auftraten und schnell verschwanden. Gerade im Straßenverkehr gelang es ihm sehr gut, sich das bei den Autofahrern in München vorzustellen.
Ganz besonders wichtig für ihn war es zu merken: Mich haben die Gedanken so sehr gestört, weil ich ein moralischer Mensch bin, der Gedanken mit Handlungen sogar gleichgesetzt hat und deshalb in einen Strudel gekommen ist. Die ganz normalen Autofahrer mit ihren aggressiven Gedanken haben es nicht zugelassen, dass die Gedanken zu Zwangsgedanken werden, weil sie sich von ihnen nicht bedroht gefühlt und sie nicht so ernst genommen haben.
Nachdem er mehrere Wochen lang die Übungen so gut wie jeden Tag gemacht hatte, konnte er mit deutlich mehr Gelassenheit die aggressiven Gedanken aushalten, die noch auftraten und ließ sich nicht in sie verwickeln. Dabei halfen nicht nur die Konfrontationsübungen, sondern auch hypnotherapeutische Übungen, die ihn darin unterstützten, eine dauerhaft veränderte Beziehung zu den Zwangsgedanken zu entwickeln. Beispielsweise machte er in einer Hypnose-Sitzung die angenehme Erfahrung, die Gedanken so zu betrachten, als seien sie außerhalb von ihm selbst, sodass er dann sortieren und trennen konnte zwischen Zwangsgedanken und normalen Gedanken.
Weitere Arbeit an den Hintergrundthemen
Nachdem die Kernarbeit mit dem Psychologen innerhalb der Therapie in Bezug auf die Zwangsgedanken vorbei war und Herr A. weiter selbstständig üben konnte, kam er weiterhin wöchentlich. Irgendwann reichten zwei Sitzungen im Monat. In den restlichen Sitzungen konnte er immer wieder kleinere Fragen in Bezug auf die Zwangssymptomatik klären und an seinen anderen „Projekten“ arbeiten, nämlich seinem Coming-Out, seinem allgemeinen Umgang mit seinen Emotionen und seiner einsamen Lebenssituation. Die Therapie geschah im Fluss. Sie war nicht strukturiert wie ein Lehrplan, der unabhängig vom eigenen momentanen Zustand einfach durchgezogen wird. Herr A. hatte den Eindruck, auch selbst immer mitzubestimmen, was in der Therapie besprochen wird und in welchem Tempo er vorankam. Trotzdem war sehr klar, dass die wichtigen Themen immer wieder vorkamen und dass derTherapeut einen Überblick behielt. Aufgabe des Therapeuten war, immer wieder den Zusammenhang zum größeren Ganzen zu knüpfen und die Kernthemen in den Dingen zu identifizieren, die ihn immer wieder bewegten.
Der Therapeut identifizierte die Themen mit ihm gemeinsam und sie entwickelten eine Prioritätenliste. Am wichtigsten war es für ihn, am Coming-Out zu arbeiten. Dabei war der Beitrag des Psychologen ganz praktisch: er machte ihn auf Gruppen für junge schwule Männer aufmerksam, die es im SUB e.v. gab. Logisch und sinnvoll erschien ihm das schon aber irgendwie war es noch nicht der richtige Zeitpunkt, sich dorthin zu begeben.
Der Therapeut erkannte, dass es bei ihm auch darum ging, seinen Mut zu stärken: Um sich zu trauen, sich in unbekannte Situationen zu begeben, um andere schwule Männer kennenzulernen, musste er über das bisher Bekannte hinauskommen und ein Risiko eingehen. Es wäre ganz verkehrt gewesen, zu warten und zu hoffen, dass die Angst davor von allein geringer werden würde. Der Therapeut half ihm mit einer hypnotherapeutischen Übung dabei, Vorstellungen von innerer Stärke und Mut zu entwickeln, indem er auf eigene Erfahrungen zurückgreifen konnte.
Die ermutigenden Vorstellungen, die sie gemeinsam in diesen Stunden entwickelten, waren so einprägsam, dass sie ihm über mehrere Wochen begleitet haben, mit dem Ergebnis, dass er tatsächlich mehr Kontakt knüpfen konnte, z.B. in dem er eine schwule Freizeitgruppe kennen lernte.
Ergebnis und Ende der Psychotherapie
Die weiteren Schritte danach – etwa, Monate nach Beginn der Therapie eine Beziehung zu beginnen -, fielen ihm dadurch leichter. Danach wurde tatsächlich vieles einfach. Er fühlte sich viel selbstbewusster und glücklicher und es kam ihm so vor, als würde vieles, was in den Therapiegesprächen Thema gewesen war, jetzt reifen. Er hatte Leichtigkeit in Zusammenhang mit den Zwangsgedanken entwickelt, sodass sie ihn nicht mehr beherrschten. Durch die vielen vertrauensvollen Gespräche und die Erkenntnisse über seine eigene emotionale Verschlossenheit und übertriebene Unabhängigkeit hatte er die Fähigkeit entwickelt, sich gegenüber wichtigen Personen in seinem Leben zu öffnen. Er hatte auch eine bessere Beziehung zu Ängsten, Unwohlsein und Unsicherheit entwickelt, da es ihm klargeworden war, dass er diese zwar registrieren konnte, aber sie sein Handeln nicht bestimmen mussten. Er hatte für wichtige Schritte in seinem Leben einfach mehr Mut gebraucht, um das Wichtige zu tun – und diesen Mut hatte er jetzt. Die Therapie war wie ein Zündfunke gewesen, der ihn selbst in Gang gebracht und es ihm erlaubt hatte, sein eigenes Leben deutlich mehr in die gewünschte Richtung zu führen.
Nach etwa 40 Sitzungen hatte er den Eindruck, die Therapie nicht mehr zu brauchen. Er hörte auf, Termine zu verabreden, wohl wissend, dass ihn der Therapeut Termine bei Bedarf noch anbieten könnte.