Fiktive Fallgeschichte – Soziale Phobie – Teil 2

Für Herrn C. war es sehr wichtig, zu erkennen, dass es in der Therapie nicht darum geht, eine soziale Phobie zu überwinden, in dem man die Angst wegdrückt oder ignoriert, sondern darum, trotz der Angst wichtige Dinge zu tun. Das Denken des Psychologen begann ihn zu prägen. Immer wieder sprach der Therapeut von „Teilen“, fast als hätte er eine multiple Persönlichkeit. Was der Therapeut damit meinte, war aber, dass wir alle ständig zwischen verschiedenen mentalen Zuständen hin und her gleiten, die sehr unterschiedlich sein können. Das zu spüren, macht uns oft unsicher, weil wir in unserer Kultur die Erwartung haben, immer konsistent zu sein. Der Psychologe führte den Begriff der „monolithischen Persönlichkeit“ ein: Damit ist die Vorstellung gemeint, ein für alle Mal so und nicht anders zu sein und keinen Widerspruch zuzulassen. Der Psychologe erklärte ihm, dass jeder Mensch unterschiedliche Zustände erlebt, die sich stark voneinander unterscheiden. Es kann ein Zeichen inneren Reichtums sein, die Dinge aus sehr unterschiedlichen Perspektiven sehen zu können. Bloß weil ich vielleicht in diesem Moment die Dinge aus einer bestimmten Perspektive sehe, heißt es nicht, dass das die einzige Perspektive ist. Das gilt vor allem für ängstliche Menschen, weil diese dazu neigen, Gefahren, Bedrohungen und Risiken höher und ihre Bewältigungsmöglichkeiten niedriger einzuschätzen, als sie in Wirklichkeit sind.

Der Psychotherapeut machte eine Übung mit Herrn C., die dieser auf seinem Handy aufnahm und sich dann nach der Stunde immer wieder anhören konnte. Es ging darum, die Gedanken, die ihm einfallen und die Gefühle, die er spürt, mit einem gewissen Abstand zu sehen, wie Passagiere in einem Bus, die ein- und irgendwann wieder aussteigen. Auch wenn es nicht die alleinige Lösung auf Knopfdruck war, die er gern bekommen hätte, half es ihm sehr, zu akzeptieren, dass die Gedanken und Gefühle (oder mentalen Zustände), die sich ihm spontan anboten, sehr unterschiedlich sein konnten, wie die diversen Passagiere in einem Bus. Ihn amüsierte die Vorstellung, dass unter den Passagieren alte Menschen und Kinder waren, rebellische Teenies, arme und reiche Menschen, welche im Rollstuhl, welche aus entfernten Ländern, auch Menschen mit Migrationshintergrund. Den sehr ängstlichen Passagier, der ihn immer wieder dominierte, wenn es um den Kontakt zu Menschen ging, sah er als Grundschulkind mit einer Brille und einem sehr ängstlichen Blick. Ihm war durch die Übung noch klarer, dass er sich als erwachsener Mann nicht von den Unsicherheiten eines Grundschulkindes bestimmen lassen wollte. Er erkannte, dass dieser Teil von ihm sein Mitgefühl und seinen Schutz brauchte, damit er als Gesamtperson die Angst vor Menschen langsam überwinden konnte.

Darauf aufbauend, ging es darum, einem bestimmten Passagier mehr Achtung zu geben, nämlich dem Passagier „Mut“. Gerade was Mut anging, hielt Herr C. nämlich nicht sehr viel von sich. Er neigte dazu, sehr viele soziale Situationen zu vermeiden. Als ihn der Therapeut einen Test für soziale Ängste ausfüllen ließ, indem viele möglichen sozialen Situationen vorkamen, wurde ihm peinlich klar, wie vielen davon er aus dem Weg ging. Beispielsweise vermied er es in der Öffentlichkeit zu telefonieren, weil er Angst hatte, was die anderen von ihm und dem, was er sagte und tat, halten könnten. Er wollte, dass fremde Menschen möglichst wenig über ihn erfuhren, um nicht verurteilt zu werden. Ebenso vermied er es, vor anderen Menschen zu arbeiten, zu schreiben oder zu tippen, weil er befürchtete, dass diese über ihn lachten.

Das Gefühl, eingeschüchtert zu sein, war ihm sehr vertraut. Wenn er mit Bekannten unterwegs war, brauchte er viel Alkohol, um sich entspannt zu fühlen. Das machte ihm Sorgen, weil sein Alkoholkonsum in manchen Phasen seines Lebens außer Kontrolle geraten war. Das Problem war aber, dass er sich nur mutig fühlte, wenn er Alkohol getrunken hatte. Zumindest dachte er das.

Der Psychologe half ihm dabei, zu erkennen, dass er im nüchternen Zustand schon mehrmals mutig gewesen war. Sie verbrachten eine Zeit damit, diese inneren Zustände zu erkunden. Ein Beispiel war, als er ein Gespräch mit der Betreuerin seiner Masterarbeit suchte, obwohl er große Angst davor hatte, weil er sie als sehr einschüchternd erlebte. Doch ihm war der Erfolg in seinem Studium einfach zu wichtig, als dass er sich damit zurückhalten und seine Fragen nicht stellen konnte. Er hatte in diesem Gespräch den Fokus auf etwas anderes als seine Angst gelegt, nämlich auf seinen Wunsch, voranzukommen und das Unangenehme hinter sich zu bringen. In seiner Vorstellung half ihm der Therapeut ein Bild zu entwickeln von einem Passagier im vorher erwähnten Bus: einen anpackenden jungen Mann, der Rot trug, eine Hand zur lockeren Faust geballt hatte, sicher und stark voranschritt, über die Beine geerdet, das Ziel klar vor Augen, vorausschauend und langfristig denkend, geradeaus. Diesem Passagier hatte er bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Fragen des Psychologen halfen ihm dabei, diesen Geisteszustand zu verfestigen, der in seinem Körper mit einer inneren Weite und einem voranschreitenden Gefühl der Stärke in den Beinen verbunden war.

Es war äußerst hilfreich, diesen Zustand zu aktivieren und immer wieder im Alltag auf ihn zurückzukommen. Wenn Herr C. darauf gewartet hätte, dass er spontan kommt, hätte er noch weitere Jahrzehnte warten können. Der mutige Teil von ihm brauchte eine gezielte Stärkung und musste immer wieder eingeladen werden, in dem Herr C. aktiv diesen Geisteszustand herbeiführte.

Im wahrsten Sinne des Wortes fühlte Herr C. sich ermutigt, die Ziele anzugehen, die er mit dem Psychologen am Anfang der Therapie identifiziert hatte. Das allerwichtigste Ziel war, die soziale Phobie zu reduzieren und weniger Angst zu haben, wenn er in Kontakt mit Menschen kam. Da sein mutiger Persönlichkeitsanteil nun einen festeren Platz in seinem Leben hatte, fiel es ihm leichter als früher, sich vorzustellen, die wichtigen Schritte trotz der Angst zu bewältigen. Mit dem Psychologen identifizierte er soziale Situationen, die er gern ohne so viel Angst bewältigen wollte und erstellte eine Hierarchie, die so aussah:

100% eine Frau, die ihm gefiel, anzusprechen
80% einen Vorgesetzten anzusprechen
60% jemandem zu widersprechen (z.B. einem Kollegen)
40% jemanden anzusprechen, den er nicht kannte, z.B. um nach dem Weg zu fragen
25% in der Öffentlichkeit zu telefonieren, sodass andere Teile seines Gesprächs mitbekommen konnten
10% mit fremden Menschen zu telefonieren, z.B. um einen Termin beim Arzt auszumachen

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