Fiktive Fallgeschichte – Soziale Phobie – Teil 1

Stellen Sie sich vor, Sie hätten ein Problem, für das Sie einfach keine Lösung finden. Oder Sie fühlen sich von Gedanken, Ängsten oder Gefühlen so eingeengt, dass Sie keinen Ausweg finden, sich aber auch niemandem anvertrauen können. Vielleicht fragen Sie sich, ob und wie Ihnen eine Therapie in dieser Situation helfen kann. In dieser Rubrik stelle ich Ihnen Geschichten vor, die auf unseren Erfahrungen als Therapeuten beruhen. Ich habe mich dafür von tatsächlichen Geschichten und Erzählungen meiner Klienten ebenso inspirieren lassen wie von der Literatur, mit der ich mich weiterbilde. Das bedeutet, diese Fälle könnten tatsächlich geschehen, sind aber keine Erzählungen aus der Praxis. Denn selbstverständlich ist Diskretion oberstes Gebot unserer Arbeit, sie ist die Basis für das Vertrauen, das zwischen Klienten und Psychotherapeuten herrscht. Mit den Geschichten in dieser Rubrik, die ich für Sie geschrieben habe, möchte ich Ihnen eine Vorstellung davon geben, wie eine Therapie bei uns ablaufen könnte.

Soziale Ängste nicht mehr aushalten

Herr C. hatte lange gebraucht, um sich zu trauen, einen Psychotherapeuten zu kontaktieren. Vor Menschen hatte er immer Angst gehabt. Für ihn war es immer eine Qual, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, es sei denn, er kannte sie schon sehr lange und war sich sehr sicher, dass sie ihn mochten und schätzten. Als er 27 Jahre alt war und noch nie eine Freundin gehabt hatte, beschloss er, dass es so nicht weitergehen konnte: Er wandte sich per E-Mail an einen Psychotherapeuten, der ihm einen Termin anbot.

In der ersten Stunde kam es ihm so vor, als würde alles aus ihm herausplatzen. Er erzählte extrem viel über sich selbst, als wären die Schleusen, die mehr als zwei Jahrzehnte dicht geschlossen waren, plötzlich geöffnet worden. Er hatte den Eindruck, die Stunde gut genutzt zu haben, um so viel abzulassen wie noch nie zuvor. Hinterher fragte er sich dann, welchen Eindruck er wohl beim Psychologen hinterlassen hatte. Der Psychologe hatte in der ersten Stunde kaum etwas gesagt, weil er kaum zu Wort gekommen war, außer um zu bestätigen, dass Herr C. typische Symptome einer sozialen Phobie zeigte. Aber trotzdem hatte sich diese erste Stunde für Herrn C. angefühlt wie eine Massage für die Seele.

Er freute sich fast schon auf die nächste Stunde, vor allem auf die Möglichkeit, dass er sich wieder erleichtern konnte, indem er viel erzählt. Richtige Freude erwartete er von den Stunden nicht, denn er wusste überhaupt nicht, wie er diesen ruhigen Mann, der ihm in der ersten Sitzung 50 Minuten lang zugehört hatte, überhaupt einschätzen sollte. In der zweiten Stunde sprach der Psychotherapeut selbst etwas mehr. Es war ihm wichtig, den Hintergrund von Herrn C. zu verstehen. Er wollte sich ein genaueres Bild vom Entstehen und von der Entwicklung der sozialen Ängste machen und deshalb erfahren, was für Menschen seine Eltern und Geschwister waren.

Herr C. ertappte sich kurz bei dem Gedanken, ob der Therapeut jemand war, der die Wurzeln aller Probleme in der Kindheit finden und den Eltern für alles die Schuld in die Schuhe schieben wollte. Aber er merkte schnell, dass es dem Therapeuten um ein Gesamtbild seiner Entwicklungsgeschichte ging. Zwei grundsätzliche Ideen des Psychologen schienen Herrn C. besonders wichtig:

  1. Kinder werden nicht nur von ihren Eltern, sondern auch von ihren Geschwistern, Lehrern, Mitschülern und sogar von den Medien miterzogen. Der Brutkasten, den die Eltern bestimmen, ist zwar am Anfang des Lebens sehr klein, wird jedoch zunehmend größer und die Eltern haben dann immer weniger Kontrolle darüber, sodass man von immer mehr unterschiedlichen Menschen und Einflüssen erzogen und geprägt wird.
  2. Alle Eltern machen Fehler, denn sie können nicht rund um die Uhr in ihrer Erziehungsaufgabe ausschließlich perfekt auf ihr Kind abgestimmte Entscheidungen treffen und sind zu einem großen Teil auf abgesicherte Verhaltensentwürfe angewiesen, die teilweise durch ihre eigene auch nicht perfekte Erziehung zustande kamen und automatisch zur Verfügung stehen.

Er merkte, dass es dem Therapeuten gar nicht um Schuld ging. So konnte Herr C. weiter von seiner Familie erzählen, ohne das Gefühl zu haben, seine Eltern zu verraten. Herrn C.s Mutter war in Bezug auf soziale Interaktion, aber auch insgesamt sehr ängstlich gewesen. Deshalb hatte sie ihn ganz wenig allein gelassen oder mit anderen Kindern spielen lassen. Da er von etwas außerhalb der Stadt kam und vor seiner Einschulung nur wenig mit anderen Kindern zu tun gehabt hatte, war er anders als die anderen Kinder. Er wusste nicht, wovon sie sprachen, als sie beispielsweise von ihren Lieblingsserien erzählten, er konnte nicht mitreden. Andere Kinder bemerkten seine Unsicherheit und hänselten ihn.

Irgendwann ermutigte ihn der Psychotherapeut dazu, sich auf die inneren Bilder zu seiner Kindheit zu konzentrieren. Herr C. spürte einen großen Widerwillen, da die Erinnerungen schmerzlich waren. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass es dasselbe Unwohlsein, dieselbe Unsicherheit und dieselben Ängste vor Menschen waren, die ihn heute noch plagten. Als er erzählte, dass die anderen Kinder ihn als Brillenschlange bezeichnet hatten, stiegen ihm Tränen in die Augen. Er kam sich dumm vor, heute immer noch solch starke Gefühle dazu zu haben. Er hatte sich schließlich schon vor Jahren die Augen lasern lassen und brauchte heute gar keine Brille mehr! Deshalb ärgerte er sich über seine irrationale Reaktion.

Der Psychotherapeut bat ihn darum, sich von der ärgerlichen Reaktion abzuwenden, um dem verletzten Teil in sich Platz zu geben. Mit seiner sanften, sehr angenehmen Stimme erzählte der Therapeut, dass manche Dinge, die weh tun, lange in uns herumgeistern und nicht verarbeitet werden. Gerade wenn wir uns damit schwertun, den Gefühlen offen zu begegnen, kann es sein, dass es jedes Mal so ist, als würden ganz alte Wunden wieder aufreißen, sodass die Schmerzen von damals wieder neu und sehr intensiv spürbar werden. Gerade wenn wir uns in den ursprünglichen Situationen sehr geschämt haben und deshalb niemandem von unseren Erlebnissen erzählt haben, kann es sein, dass das Gehirn oder die Seele niemals die Gelegenheit hatte, die Erlebnisse richtig zu „verdauen“.

Es war für Herrn C. sehr wohltuend, mit solch einer Wertschätzung behandelt zu werden. Er war es gewohnt, sich innerlich sehr stark zu kritisieren und sich viele Gedanken darüber zu machen, wie er nach außen wohl wirkte. Hier in der Therapie hatte er den Eindruck, dass das überflüssig war. Die Schleusen waren wieder offen, deshalb erzählte er von einem Erlebnis in der Realschule: Ein Mitschüler hatte ihm die Hände zusammengebunden und ihm dann vor der gesamten Klasse seine Hose herunterzogen, sodass alle seine Unterhose sehen konnten und laut über ihn gelacht hatten.

Herrn C. war dann am Ende der Stunde klar, dass er sehr viel in seinem Leben darauf abgestimmt hatte, zu verhindern, dass er jemals wieder so eine starke Scham spüren musste. Für einen Teil von ihm war es oberste Priorität geworden, dafür zu sorgen, dass er nie wieder vor Menschen steht und ausgelacht wird. Dieser Teil von ihm hatte Angst vor Menschen überhaupt, weil er die Gefahr, von Menschen bloßgestellt zu werden, als sehr groß einschätzte. Der Preis, den er dafür bezahlte, war hoch, weil er so stark eingeschränkt war und wenig Freude erlebte, vor allem nicht im Kontakt mit anderen Menschen.

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