Fiktive Fallgeschichte – Aggressive Zwangsgedanken – Teil 1

Stellen Sie sich vor, Sie hätten ein Problem, für das Sie einfach keine Lösung finden. Oder Sie fühlen sich von Gedanken, Ängsten oder Gefühlen so eingeengt, dass Sie keinen Ausweg finden, sich aber auch niemandem anvertrauen können. Vielleicht fragen Sie sich, ob und wie Ihnen eine Therapie in dieser Situation helfen kann. In dieser Rubrik stelle ich Ihnen Geschichten vor, die auf meinen Erfahrungen als Therapeut beruhen. Ich habe mich dafür von tatsächlichen Geschichten und Erzählungen meiner Klienten ebenso inspirieren lassen wie von der Literatur, mit der ich mich weiterbilde. Das bedeutet, diese Fälle könnten tatsächlich geschehen, sind aber keine Erzählungen aus meiner Praxis. Denn selbstverständlich ist Diskretion oberstes Gebot meiner Arbeit, sie ist die Basis für das Vertrauen, das zwischen meinen Klienten und mir herrscht. Mit den Geschichten in dieser Rubrik, die ich für Sie geschrieben habe, möchte ich Ihnen eine Vorstellung davon geben, wie eine Therapie bei mir ablaufen könnte.

Behandlung einer Zwangsstörung – Vertrauensbasis schaffen

Herr A., ein 22-Jähriger Jurastudent, kam zur Therapie nachdem er bereits ein paar Therapiestunden bei einem Psychotherapeuten am Wohnort seiner Eltern absolviert hatte. Der dortige Therapeut war kein Experte für Zwangsstörungen und führte ein allgemeines Coaching mit ihm durch, sodass er in den Stunden nicht die Gelegenheit hatte, sein Anliegen sehr genau zu schildern.

Aus diesem Grund war er bereits in den ersten Stunden extrem dankbar dafür, dass er den Raum bekam, ausführlich von seiner Befindlichkeit und vor allem von seinen quälenden Zwangsgedanken zu berichten. Er hatte zuvor den Eindruck gehabt, total verrückt zu werden, vielleicht sogar ein Psychopath zu sein, weil es in seinen Gedanken um sehr aggressive und gewalttätige Dinge ging. Es war eine große Erleichterung für ihn, mit einem Professionellen darüber zu sprechen, auch weil es klar wurde, dass ich solche Dinge schon öfters gehört hatte und deshalb gut einordnen konnte. Er spürte das auch, weil ich überhaupt nicht schockiert war – davor hatte er sich sehr gefürchtet. So gewann er den Eindruck, wirklich alles erzählen zu können, was ihn belastet, weil er nicht befürchten musste, dafür verurteilt oder missverstanden zu werden.

Quälende Zwangsgedanken 

Ganz konkret hatte er Angst davor, dass er seinen engsten Freund oder Familienangehörige umbringen könnte. Er war zwar sehr sicher, dass er dies nie bewusst tun würde, aber der Gedanke, dass er es tun könnte, ließ ihn kaum noch los. Er hatte sogar Angst davor, einzuschlafen, da er befürchtete, im Schlaf die Morde auszuführen. Aufgrund der Zwangsgedanken fühlte er sich die meiste Zeit sehr niedergeschlagen und wenig im Leben konnte ihn noch aufheitern. Seit es diese schlimmen Gedanken gab, hatte er auch immer wieder Suizidgedanken gehabt. Dabei wollte er sich überhaupt nicht umbringen, auch weil ihm klar war, dass er anderen damit weh tun würde. Er hatte große Schuldgefühle, weil er sich seinen Eltern wegen der Zwangsgedanken anvertraut und ihnen damit große Sorgen bereitet hatte. Er war komplett verzweifelt, weil er so häufig einen „Strudel im Kopf“ hatte, als würde er gedanklich in Sackgassen landen, aus denen es keinen Ausweg gab. So hatte das Leben für ihn keinen Sinn mehr. Er konnte selbst überhaupt nicht verstehen, wieso er so besessen von den Gedanken um Gewalt gegen seinem Freund oder seine Familie war. Vor allem deshalb nicht, weil er sich als jemanden empfand, der immer bemüht war, das Richtige zu tun. Noch nicht einmal als Jugendlicher war er jemand gewesen, der sich in Schlägereien verwickelte. Wenn ihn etwas geärgert hatte, hatte er es immer mit sich selbst ausgemacht. Vor allem hatte Herr A. Angst davor, dass ihm die Gedanken irgendwann gefallen könnten und er dann tatsächlich morden würde.

Er hatte nur dann Ruhe, wenn er sich vollkommen auf eine andere Tätigkeit konzentrierte, was er aber nicht die ganze Zeit tun konnte, ohne sich komplett zu erschöpfen. Er vermied es, Bücher zu lesen oder Filme zu sehen, in denen aggressive Handlungen vorkamen. Auch Nachrichten schaute er nicht an, aus Angst, von etwas Gewalttätigem zu erfahren, was einen weiteren Strudel in seinem Kopf auslösen würde. Er vermied es inzwischen sogar rote Dinge oder Bilder zu betrachten, weil ihn die Farbe Rot an Blut und deshalb an Mord erinnerte…

Kurzum: Er spürte, dass dieser Zwang sein längst viel zu stark beherrschte. Er fragte sich, ob er sich im Frühling in seinem Zimmer würde einsperren müssen, damit er keine roten Tulpen sehen und im Winter, damit er in den Läden keine Weihnachtsmänner zu Gesicht bekäme…

Informationen über den Zwang sammeln

Im Laufe der ersten Stunden war es wichtig und für Herrn A. sehr beruhigend, zu verstehen, was überhaupt los war. Er hatte bereits in einem Buch von Johnson und Foa („Stop Obsessing!“) viele wichtige Dinge über die Entwicklung einer Zwangserkrankung verstanden. Allein diese Informationen zu bekommen, war therapeutisch sehr wirksam gewesen. Da er dann der Therapeut und er ein gemeinsames Verständnis für die Mechanismen hinter der Störung entwickelten, gewann er an Zuversicht, diese Probleme durch die Therapie bewältigen zu können.

Es war für Herrn A. besonders wichtig zu erkennen, dass die Vermeidung der Zwangsgedanken das Problem immer weiter verstärkt. Je mehr er den Gedanken zu entkommen suchte, umso stärker drängten sie sich auf, forderten seine Aufmerksamkeit ein, wie kleine, hartnäckige Tiere, die durch immer aufwändigere Methoden die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen versuchen, bis endlich jemand sie beachtet.


Hintergrund der Zwangssymptomatik

Um zu verstehen, wie es zu diesen Problemen kommen konnte, war es wichtig, nicht nur die Symptome, sondern auch den Hintergrund zu verstehen. Schließlich konnte man die Symptome der Zwangsstörung als Ausdruck einer seelischen Krise verstehen, die ihre Hintergründe im äußerlichen Leben hatten. Ganz wichtig war vor allem sein Coming-Out. Er hat selbst schon als Kind gespürt, dass er anders war als andere Jungen, obwohl er lange Zeit keine Worte für sein Anderssein hatte. Dass er schon in der Grundschule als „Schwuler“ oder „Schwuchtel“ von anderen Jungs gehänselt worden war, hatte ihm zwar sehr weh getan, aber den Zusammenhang mit seiner eigenen Sexualität hatte er erst sehr viel später mit etwa 16 Jahren verstanden.

Dies war für ihn auch nicht leicht, denn seine Eltern waren sehr aktiv in der evangelischen Gemeinde und er musste auch selbst lange Zeit mit seiner Schwester jede Woche in die Kirche gehen. Deshalb war seine Erkenntnis, selbst schwul zu sein, Auslöser eines großen inneren Konflikts: Auf der einen Seite fühlte er sich seinen Eltern gegenüber emotional sehr loyal und war außerdem für die Finanzierung seines Studiums auf sie angewiesen. Auf der anderen Seite kam es ihm unmöglich vor, seine Homosexualität zu verleugnen, denn schwul zu sein fühlte sich wie seine angeborene Natur an.

Wenn er seinen Eltern erzählen würde, dass er schwul war, würde er es nicht zurücknehmen können, falls sie schlecht darauf reagierten. Er hatte auch über die Jahre hinweg immer wieder bemerkt, wie negativ seine Eltern auf Erwähnungen von Schwulen und Lesben (z.B. auf den CSDs im Sommer) im Fernsehen reagiert hatten. So hatte er die Befürchtung, dass seine Eltern ihn als ihren schwulen Sohn überhaupt nicht akzeptieren würden.

Deshalb erzählte er ihnen nichts darüber. Äußerst unwohl fühlte er sich aber immer wieder, wenn ihn seine Eltern fragten, ob er denn eine Freundin in München hätte. Lügen wollte er nicht, aber er wusste, dass es ihnen immer merkwürdiger vorkommen würde, dass er noch nie eine Freundin gehabt hatte, weil er kein schlecht aussehender junger Mann war. Durch dieses Schweigen über seine Sexualität hatte er sich emotional immer weiter von seinen Eltern entfernt. In der Therapie konnte er verstehen, dass diese Umstände zu einem großen Packen Stress führten, der immer schwerwiegender wurde.

Darüber hinaus war es ihm nicht leichtgefallen, Männer kennenzulernen, selbst in einer Stadt wie München, die eine Metropole mit vielen schwulen Männern ist. Seine religiöse Erziehung hatte es ihm schwergemacht, sich auf flüchtige sexuelle Kontakte einlassen, wie manche andere, die sich auf Grindr oder Gayromeo verabreden. Ein Teil von ihm wollte das natürlich ausprobieren, aber er hat sich zu sehr nach echter Liebe gesehnt, um so locker mit seiner Sexualität umzugehen. Stattdessen hat er sich manchmal in seine heterosexuellen Kommilitonen verliebt, was aber eine sehr verletzende Sackgasse war.

Dass er sich in München generell einsam fühlte, hatte sicherlich auch zu seinem zerbrechlichen inneren Zustand beigetragen. Er hatte sich dafür entschieden, in einem Studentenwohnheim zu leben, weil er angenommen hatte, dass er dadurch besser Chancen hätte, Freundschaften zu schließen. Das war in seinem Wohnheim aber leider nicht der Fall. In der gemeinsamen Küche ging es distanziert und kühl zu, die Gespräche waren immer sehr kurz. Nach den Tagen an der Uni freute er sich nicht darauf, nach Hause zu gehen. Jetzt umso weniger, weil er seit vielen Wochen sein Zimmer mit seinen Zwangsgedanken in Verbindung gebracht hat, sodass es ihm schließlich wie ein Gefängnis vorkam…


… zu Teil 2