Fiktive Fallgeschichte – Depression – Teil 2

Depression als Psychosomatischer Ausdruck von Emotionen

Zum ersten Mal spürte sie ganz bewusst Ärger. Es ärgerte sie, dass ihre Firma und ihr Chef so viel von ihr erwarteten. Und es ärgerte sie noch mehr, dass sie sich bis jetzt nicht gefragt hat, ob das, was von ihr verlangt wird, erfüllbar war. Dass es ihr nie eingefallen war, auch einfach mal „Stopp!” zu sagen. Der Therapeut bat sie immer wieder darum, hinzuspüren, was sie körperlich im Gespräch erlebte. Es machte ihr Angst, die Empfindungen noch einmal zu spüren, aber die einfühlsame Art des Therapeuten ermöglichte es ihr, bei den Gefühlen zu bleiben, obwohl der Impuls, sich von den Gefühlen abzulenken, sehr stark war. So konnte sie ziemlich klar wahrnehmen, wie die Themen mit den depressiven Symptomen zusammenhingen. Als sie genauer von den Aufgaben am Arbeitsplatz erzählte, nahm sie die Erschöpfung und die Benommenheit in ihrem Körper wahr. Indem sie bei den Gefühlen blieb und weitererzählte, spürte sie, wie die Gefühle sich verwandelten. Als sie für den inneren Zustand das Wort Ärger fand und erlebte, wie passend das Wort dafür war, fühlte sie sich erleichtert.

Für Frau B. war es neu, dass man solche Symptome allein dadurch hervorruft, dass man über damit zusammenhängende Ereignisse spricht. Sie verstand, dass dieses Erlebnis ein Beweis für die Existenz psychosomatischer Symptome ist. Dadurch wurde ihr noch klarer, dass sie mit der psychotherapeutischen Behandlung der Depression auf dem richtigen Weg war. Bis zu dem Zeitpunkt in ihrem Leben hatte sie den Körper und die Psyche mehr oder weniger als getrennt betrachtet, aber diese Gespräche über ihren Arbeitsplatz zeigten ihr sehr deutlich, dass ihr Körper sogar auf ihre eigenen Ideen und Bewertungen reagierte. Mit einer neuen Sensibilität für die Reaktionen ihres Körpers auf Ereignisse stieg ihr Interesse an der Therapie und sie führte die „Detektivarbeit“ fort, indem sie ihre körperlichen Reaktionen unter verschiedenen Umständen wahrnahm und versuchte, sie zu Emotionen zuzuordnen. Auf Anregung des Therapeuten führte sie ein Emotionstagebuch, um jeden Tag sich selbst näher zu kommen.

Dadurch verwandelte sich langsam etwas in ihr, da ihr ihre eigenen Gefühle und auch die körperlichen Symptome keine wirkliche Angst mehr machten. Sie machte sich keine Sorgen mehr um die Empfindungen, die in Stresssituationen auftraten. In einer Übung vom Therapeuten übte sie die Haltung ein, ihre Emotionen (auch die unliebsamen) zu begrüßen und

wertzuschätzen. Ihr war inzwischen klar: Letztendlich wollten auch die unangenehmen Gefühle sie nur darauf hinweisen, dass etwas für sie nicht stimmte und dass es etwas brauchte, um die Situation in eine für sie positive Richtung zu lenken. Den Begriff „Selbstfürsorge“ führte der Therapeut ein, ein für Frau B. anfangs sehr merkwürdiges Wort. Aber es wurde ein Stichwort, das ihr Denken und ihr Handeln nachhaltig beeinflusste. Immer wenn sie in ihr Emotionstagebuch schrieb, sagte sie zu sich: „Genau, das ist jetzt emotionale Selbstfürsorge. Gut so.“

Von der Depression lernen – ein Gegengewicht entwickeln

Während der Therapiegespräche wurde ihr immer klarer, dass ihre erste Verpflichtung sich selbst gegenüber ist. Denn wenn sie an ihren Aufgaben zerbricht und depressiv wird, ist sie sowieso nicht mehr nützlich für die anderen am Arbeitsplatz oder anderswo in ihrem Leben. Mit einem gestärkten und gebesserten Kontakt zu sich selbst ging es ihr schon deutlich besser, weil sie sich „vollständiger“ fühlte. Sie wusste klarer als vorher, was sie brauchte und was ihr guttat und sie begann, Kontakte mit Freunden und Bekannten mehr zu pflegen. Sie erkannte, dass sie sich früher eingeredet hatte, sie müsse ihre Freizeit eher allein verbringen, um sich für die anstrengenden Arbeitswochen aufzutanken. Jetzt war ihr klar, dass das Fehlen von angenehmen Aktivitäten und Vorfreude das Ungleichgewicht in ihrem Leben verstärkt hatte.

Um diese Entwicklung zu unterstützen, schlug ihr der Psychologe vor, dass sie das Angenehme, was ihr im Leben auffiel, bewusster registrierte. Konkret stellte er ihr eine ganz einfache Methode vor, nämlich das Tagebuch guter Momente. Sie kaufte sich ein schönes Büchlein und hielt schriftlich an den meisten Abenden in der Woche drei schöne Dinge, Situationen oder Erlebnisse des Tages fest. So schrieb sie zum Beispiel an einem Abend: „Heute morgen bin ich im Park nebenan joggen gewesen. Es gibt in diesem Spätsommer noch viel Grün an den Bäumen. Es war wunderschön, das Rascheln der Blätter im leichten Wind zu hören und die leichte Abkühlung im Gesicht zu spüren. Ich genoss es, meinen Körper als kräftig und schneller als im Alltag zu erleben. Meine Gedanken konnten abschweifen und ich konnte mich immer wieder auf die visuellen Eindrücke konzentrieren, meine Beine und Arme bewegten sich weiter, ohne dass ich noch etwas dafür tun musste. Als ich nach Hause kam, fühlte ich mich wie von innen heraus gereinigt – das ist so ein schönes Gefühl!”


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