Fiktive Fallgeschichte – Depression – Teil 1

Stellen Sie sich vor, Sie hätten ein Problem, für das Sie einfach keine Lösung finden. Oder Sie fühlen sich von Gedanken, Ängsten oder Gefühlen so eingeengt, dass Sie keinen Ausweg finden, sich aber auch niemandem anvertrauen können. Vielleicht fragen Sie sich, ob und wie Ihnen eine Therapie in dieser Situation helfen kann. In dieser Rubrik stelle ich Ihnen Geschichten vor, die auf meinen Erfahrungen als Therapeut beruhen. Ich habe mich dafür von tatsächlichen Geschichten und Erzählungen meiner Klienten ebenso inspirieren lassen wie von der Literatur, mit der ich mich weiterbilde. Das bedeutet, diese Fälle könnten tatsächlich geschehen, sind aber keine Erzählungen aus meiner Praxis. Denn selbstverständlich ist Diskretion oberstes Gebot meiner Arbeit, sie ist die Basis für das Vertrauen, das zwischen meinen Klienten und mir herrscht. Mit den Geschichten in dieser Rubrik, die ich für Sie geschrieben habe, möchte ich Ihnen eine Vorstellung davon geben, wie eine Therapie bei uns ablaufen könnte.

Frau B., eine 45-jährige Chemikerin, kam auf Anraten ihres Hausarztes in psychotherapeutische Behandlung. Frau B. hatte schleichend über einige Monate hinweg immer mehr unangenehme Gefühle gehabt, die sie schwer beschreiben konnte. Sie hatte eine Art Schwindelgefühle erlebt, aber nicht so, dass es wirkte, als würde sich der Raum drehen. Es war eher eine Art Benommenheit und Erschöpfung und eine niedergedrückte Stimmung gewesen. Der Hausarzt hatte Untersuchungen vorgenommen und unter anderem ein Blutbild gemacht, dabei jedoch keine Auffälligkeiten entdeckt. Deshalb lautete seine Verdachtsdiagnose Depression. Er empfahl Frau B., in Psychotherapie zu gehen.

Diagnose Depression – kann das sein?

„Depression? Depression? Das darf doch nicht wahr sein!“, diese Gedanken gingen ihr die nächsten Stunden und Tage ständig im Kopf herum. Allein die Vorstellung in irgendeiner Form „einen Dachschaden“ zu haben, kam ihr absurd vor. Das passte gar nicht zu ihr!

„Menschen in meiner Familie und in meinem Freundeskreis bekommen doch keine Depressionen!”

Doch Depression hin oder her – sie entschied sich, einen Termin bei einem Psychologen auszumachen, denn sie war auch sehr pragmatisch und wollte auf jeden Fall gesund werden, obwohl sie sehr skeptisch war, was die Diagnose der Depression anging.

Als sie eine Woche später zur ersten Stunde kam, fühlte sie sich noch sehr unsicher, ob Psychotherapie überhaupt das richtige für sie war. Sie fühlte sich zwar deutlich unglücklicher als sonst, glaubte aber, das läge nur an den körperlichen Symptomen. Der Therapeut machte einen sehr angenehmen Eindruck auf sie und es fiel ihr deshalb sehr leicht, Vertrauen zu fassen und sehr offen über ihre Situation zu sein, obwohl sie einem komplett fremden Menschen gegenübersaß. Er fragte ganz genau nach, welche Symptome sie habe und wann diese zum ersten Mal aufgetreten waren. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie die Situation, in der die Symptome zum ersten Mal aufgetreten waren, nicht für so wichtig erachtet. Das war geschehen, als sie an ihrem Schreibtisch an der Arbeit saß. Ihre Kollegin war im Urlaub war und Frau B. hatte sich deshalb ziemlich allein mit dem Projekt gefühlt, für das der Abgabetermin schon sehr nah rückte. Ihr fehlte die Unterstützung ihrer Kollegin sehr und gleichzeitig erlebte sie ihren Chef als wenig unterstützend. Dies war ihr aber in der Situation nicht so bewusst gewesen, dass sie zu diesem Zeitpunkt die Worte dafür gefunden hätte, denn ihre Einstellung war mehr oder weniger „natürlich kann ich das“. Die Idee, eine Depression zu bekommen, wäre ihr zu diesem Zeitpunkt total absurd erschienen.

Nach zwei Sitzungen bat sie der Therapeut darum, einige Formulare auszufüllen, unter anderem einen ziemlich langen Fragebogen zu ihrer Lebensgeschichte. So viele Fragen zu ihrer Person hatte sie noch nie beantwortet.

Darunter gab es auch einen Bogen zu den Symptomen von Depression und es stellte sich heraus, dass sie doch eine leichte Depression hatte. Der Bogen enthielt Fragen zu verschiedenen Aspekten von Depression, die irgendwie logisch auf sie wirkten und zu ihrem aktuellen Zustand passten. Unter anderem waren dabei:

  • Häufige Traurigkeit
  • Schuld- und Versagensgefühle
  • Häufige Selbstkritik für die eigenen Mängel
  • Erhöhte Reizbarkeit
  • Konzentrationsschwierigkeiten
  • Pessimistischer Blick in die Zukunft
  • Innere Unruhe

Was steckt hinter der Diagnose Depression? 

Der Therapeut erklärte ihr, dass Depression bei verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich aussehen kann und dass die wichtigste Aussage der Diagnose ist, dass es ihr seit längerem gar nicht gut geht, weil einige ihrer Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Man müsse sich jetzt die Zeit nehmen, um herauszufinden, welche Bedürfnisse das sind.

Es gefiel ihr, dass sie sich vom Therapeuten als kompetentes Individuum und nicht als armselige, depressive Patientin behandelt fühlte. Weil es darum ging, ihr zuzuhören, um ihre aktuelle Lebenslage zu verstehen und die Zusammenhänge mit dem ersten Auftreten und der Entwicklung der Symptome nachzuvollziehen, fühlte sie sich, als sei sie in eine Art Detektivarbeit eingebunden. Die Diagnose der Depression war dabei eher Mittel zum Zweck gewesen, eine Art Türöffner für ein neues Bewusstsein: Sie erkannte, dass ihr zu stark ausgeprägtes Pflichtbewusstsein dazu geführt hatte, dass viele ihrer eigenen Bedürfnisse auf der Strecke geblieben waren. Sie erlebte, dass der Therapeut nicht daran interessiert war, sie abzustempeln oder in eine Schublade zu stecken, sondern mit ihr gemeinsam herausfinden wollte, wie ihr Missmut zustande gekommen war, damit ihre eigenen Möglichkeiten, den Missmut an der Quelle zu stoppen, aktiviert werden konnten. Sie fand es auch sehr hilfreich, dass der Therapeut ein aktives und strukturiertes Vorgehen hatte. So konnten sie sich systematisch mit fünf wichtigen Lebensbereichen beschäftigen, nämlich: Arbeit, Partnerschaft, Freundschaften, Familie und Hobbies.

Es wurde schnell klar, dass die Unstimmigkeiten am Arbeitsplatz ganz ausschlaggebend für ihre Depression waren. Die Überforderung dort hatte sie deutlich mehr beeinflusst, als sie sich selbst bis dahin eingestehen konnte. Noch wichtiger war die Erkenntnis, dass ihr eigenes Pflichtbewusstsein sie sehr anfällig für Depression machte, denn es fiel ihr zu schwer, an ihrem überfordernden Arbeitsplatz Grenzen zu setzen, um für ihr eigenes Wohlergehen zu sorgen. Dass sie die Aufgaben ihrer Kollegin während deren Urlaubs übernimmt und versucht, alles zu tun, was ihr Chef von ihr verlangt, war einfach selbstverständlich für sie gewesen.

Ihr wurde zum ersten Mal im Leben in aller Deutlichkeit klar, dass sie ohne Rücksicht auf ihre eigenen Grenzen und Ressourcen handelte und im Dienste der anderen stand, auch wenn sie dabei offensichtlich selbst viel zu kurz kam oder sogar ausgebeutet wurde.


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