Gefühle sind auch Männersache
Der Klient, Herr K., berichtet darüber, dass er damit abgeschlossen hat, dass seine Eltern ihn und seine Frau nach der Geburt ihrer Tochter nicht besucht haben. Da er sich vorgenommen hat, sich mit der sehr schwierigen Beziehung zu seinen Eltern auseinanderzusetzen, frage ich ihn, ob er das überprüfen möchte. Er beantwortet diese Frage zustimmend.
Ich bitte ihn darum, sich in Erinnerung zu rufen, wie es war, als seine Eltern nach der Geburt der Tochter nicht kamen. Dabei soll er sich vorstellen, er würde alles wie in einem Film sehen – und dann erspüren, welche Szene oder Situation am intensivsten ist. Dies tue ich, weil sich in den Erinnerungen, die wir visuell abspeichern, das Emotionale üblicherweise verdichtet.
Er geht in einen ruhigen Kontakt mit sich selbst. Es herrscht Stille im Raum, während er vor sich hin schaut und sich erinnert. Nach weniger als einer Minute beschreibt er die kurze Szene nach einem Abendessen einige Wochen vor der Geburt, in der ihm sein Vater in Anwesenheit der Mutter ankündigte, dass sie nicht kommen werden. Er spricht noch in einem relativ neutralen Ton.
Dann sage ich: „Können Sie sich in Erinnerung rufen, wie das Gesicht Ihres Vaters aussieht, während er diese Worte ausspricht?“
Herr K. nickt, macht eine kurze Pause und ich merke eine Veränderung an seiner Mimik, in seiner Stimmung. Ich unterstütze ihn: „Ja, genau, da ist etwas Wichtiges gekommen. Bleiben Sie damit im Kontakt. Stehen Sie diesem Gefühl freundlich zur Seite.“
Zur Erklärung: Es ist absolut normal, dass wir uns abwenden, wenn unangenehmen Emotionen aufkommen. Dies verhindert aber häufig die nötige Verarbeitung vom Gefühl und führt zu einer Art „Stau“. Deshalb unterstütze ich Herrn K., indem ich ihn ermutige, in einem offenen Kontakt zur Emotion zu treten.
„Sie dürfen neugierig auf das Gefühl sein. Es zeigt sich, weil es eine wichtige Botschaft für Ihr Wohlbefinden hat und Ihnen helfen möchte. Atmen Sie tief durch, als würden Sie dem Gefühl sagen: Hallo, ich nehme Dich wahr.“
„Es ist total traurig“, sagt er. Seine Stimme ist zögerlicher und leiser ist als vorher.
„Woran merken Sie, dass Sie traurig sind?“ Ich deute dabei auf den Bereich des Körpers zwischen Hals und Bauch, wo die meisten unserer Emotionen sitzen. Er deutet auf den Brustbereich, wo ein Gefühl entstanden ist, „zugeschnürt zu werden“.
„Wenn Sie möchten, legen Sie Ihre Hand dahin, stehen Sie diesem Gefühl wohlwollend zur Seite.“
Uns geht es in der Therapie nicht darum, dass der Patient sich im Gefühl verliert, sondern darum, dass er in einen empathischen Kontakt mit sich selbst geht und lange genug beim Gefühl bleibt, damit eine Erleichterung stattfindet. Wenn Gefühle unterdrückt werden, neigen sie dazu, immer wieder zurückzukommen, vielleicht auf versteckter Weise, beispielsweise als Körpersymptome, und scheinen uns regelrecht zu belästigen.
Er legt seine Hand auf die Brust. Ich coache ihn weiter: „Atmen Sie noch ein paar Atemzüge durch. Erlauben Sie es sich, den empathischen Kontakt auszukosten.“
Wenn eine Emotion erkannt wird und Worte oder Bilder dafür gefunden werden, beruhigen sich die Zentren im Gehirn, die die organischen Korrelate für die Emotion abbilden. Die Entwicklung dieser Erfahrung möchte ich bei meinen Klienten unterstützen.
„Es fühlt sich leichter an“, sagt er und nickt. Die Erleichterung spiegelt sich in seinem Seufzen.
„Erlauben Sie sich, das zu genießen“, sage ich ihm und wir genießen beide für ein paar Atemzüge die Stimmigkeit des Geschehenen.
„Ich kann jetzt besser atmen“, sagt er dann und seufzt noch einmal.
„Bleiben Sie weiter im Kontakt mit dem leichteren Gefühl in der Brust. Fragen Sie das Gefühl, ob noch etwas wichtig ist.“
Diese Fragen können sehr merkwürdig erscheinen. Wichtig dabei ist aber, dass die Antwort nicht aus dem Intellekt stammt, sondern aus der Emotion. Für viele ist die Vorstellung, dass sie mit dem Gefühl kommunizieren, hilfreich.
Nach einer Weile sagt er: „Ja, ich fühle mich noch verletzt.“
Ich frage: „Um welches Bedürfnis geht es da?”
Seine Antwort: „Um Liebe. Darum, akzeptiert zu werden.“
Er nickt, er spürt, dass es stimmig ist und auch sein Körper signalisiert das durch das spontane Nicken. Ich unterstütze ihn noch: „Liebe und akzeptiert zu werden. Bleiben Sie dran. Stehen Sie dem Gefühl in der Brust freundlich zur Seite und beobachten Sie, welche kleine Veränderung entsteht.“ Zwei Atemzüge später: „Es fühlt sich noch leichter an.“ Ein Schmunzeln deutet sich auf seinen Lippen an. Ich unterstreiche das: „Es fühlt sich gut an, zu erkennen, um was es Ihnen geht. Zu wissen, Sie brauchen Liebe und Akzeptanz. Schön.“
Für alle Menschen, die ohne Vorbilder für den empathischen, hilfreichen Kontakt mit den eigenen Emotionen aufgewachsen sind, ist diese Art von Unterstützung in der Therapie sehr hilfreich. Wenn wir im offenen und authentischen Kontakt mit uns selbst sind, können wir unsere eigenen Bedürfnisse erkennen und haben eine Orientierung für das Leben. Wir haben dann auch bessere Chancen, befriedigende Beziehungen zu erleben. Insbesondere für Männer, die in der Regel im Laufe Ihrer Erziehung lernen, dass Emotionen „Frauensache“ sind, ist diese Art von Anleitung sehr wichtig.