Gleich nachdem sie die Hierarchie erstellt hatten, begann Herr C. Herausforderungen anzugehen. Wann immer es möglich war, telefonierte er nun, statt E-Mails zu schreiben, weil ihm klargeworden war, dass er es sich immer leichtgemacht hatte, indem er sich hinter einem Bildschirm versteckte, wenn er Kontakt mit fremden Leuten aufnehmen musste. Immer wieder besann er sich auf den mutigen Persönlichkeitsanteil und ergriff die Gelegenheit, sich über eine kurze Konfrontation zu stärken, um seine soziale Phobie Schritt für Schritt zu überwinden. Nach einer Weile fiel es ihm viel leichter. Er konnte, ohne groß darüber nachzudenken, zum Telefon greifen und ein freundliches Telefonat führen, ohne in seinem Kopf alle möglichen unangenehmen Szenarien durchzuspielen. Ihm wurden im Gespräch mit dem Therapeuten zwei sehr wichtige Dinge zum ersten Mal extrem klar:
- Er hatte es sich immer schwergemacht, die angstbesetzten Dinge zu tun, weil er so lange im Vorfeld gezögert hatte und in dieser „Vorbereitungszeit“ die möglichen Risiken enorm aufgebauscht hatte.
- Er hatte dem Grundschulkind mit seiner enormen Angst in seiner Vorstellung nie eine Grenze gezeigt und es nicht in die Realität geführt.
Nachdem er begann, Dinge aus seiner Angsthierarchie in Angriff zu nehmen, hatte er den Eindruck, dass sich die anderen Dinge innerhalb der Hierarchie verschoben. Sie wirkten auch nicht mehr so bedrohlich. Als nächstes entschied er sich, damit zu experimentieren, fremde Menschen anzusprechen. Der Psychologe half ihm dabei, sein Verhaltensexperiment wissenschaftlich aufzubauen. Sie entschieden gemeinsam, dass er sich an einen Ort mit vielen Menschen begibt und dass er dort möglichst viele Leute nach dem Weg fragt. Die Vorhersage seines ängstlichen Teils war, dass ihn die Angesprochenen auslachen, schief anschauen oder Grimassen ziehen würden. Als er das Experiment durchführte, tauchten die befürchteten Reaktionen tatsächlich kein einziges Mal auf. Mehrere Leute eilten an ihm vorbei und ließen sich nicht auf die Frage ein, aber alle, die ihm auf der Suche nach dem Weg halfen, wirkten zufrieden damit, ihm helfen zu können. Sie behielten einen ziemlich neutralen Gesichtsausdruck und benahmen sich so, als wäre es absolut normal, dass jemand nach dem Weg fragte und als würde er durch gar nicht eigenartig oder ungewöhnlich wirken. Das Experiment war also äußerst effektiv.
Der Psychologe meinte, dass es keine bessere Therapie gibt als das wirkliche Leben. Ein Psychotherapeut unterstützt mit Anregungen, entwickelt neue Perspektiven und gibt Klarheit über den hilfreichen Weg. Aber der Klient muss selbst den Weg gehen und seine eigenen Erfahrungen am eigenen Leib sammeln. Am eigenen Leib – so hatte auch Herr C. gelernt, dass seine eigenen Vorhersagen zum Verhalten anderer Menschen völlig falsch sein kann und dass die Vorstellung zu all den möglichen schlimmen Szenarien, die passieren könnten, sehr übertrieben ist.
Damit sich Herr C. weiter nach oben auf seinem Weg in der Hierarchie machen konnte, ging er mit dem Psychologen zusammen in der Sitzung eine Situation an, in der er einem Kollegen widerspricht. Er wollte sich erst einmal gar nicht auf ein Rollenspiel einlassen, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass sich das darin Gelernte auf die Wirklichkeit übertragen lassen würde. Der Therapeut fragte ihn daraufhin, ob er in dieser Verweigerung seine Muster irgendwie wiedererkennen konnte. Herrn C. wurde klar, dass er eine pessimistische Perspektive eingenommen hatte, um seiner ängstlichen, kindlichen Seite freie Bahn zu geben – und der gefürchteten Konfrontation auszuweichen. Als er das erkannte, ließ er sich auf das Rollenspiel ein. Er stellte darin ein Treffen dar, bei dem er gegenüber einem bestimmten Kollegen äußerte, dass er ein anderes Verfahren besser findet, als das vom Kollegen vorgeschlagene. Herr C. fand es sehr interessant, die diversen Einzelheiten (die Gedanken, die Körpergefühle, die Emotionen, die Handlungstendenzen) seiner eigenen Reaktion und mögliche Reaktionen des Kollegen durchzugehen.
Später fiel ihm der Kontrast auf zwischen der langsamen, bedächtigen und sehr genauen Vorgehensweise des Therapeuten mit ihm und der üblichen schnellen und sehr ungenauen Vorgehensweise in seinem Kopf, wenn sein inneres Grundschulkind ihn leitete und zur Vermeidung führte. Der Therapeut half ihm die ganze Zeit dabei, den mutigen Persönlichkeitsanteil in den Vordergrund zu stellen, damit er sich für seine Inspiration auf ihn besann und nicht auf das Grundschulkind. Das Ergebnis des Rollenspiels, in dem er selbst beide Rollen übernahm, dafür zwischen den Stühlen hin und her wechselte und sich vom Therapeuten coachen ließ, war, dass er eine für sich passende höfliche Formulierung parat hatte, um dem Kollegen zu widersprechen. Ferner hatte er am Ende Möglichkeiten erarbeitet, wie er reagieren könnte, falls die Reaktion des Kollegen, der tatsächlich einen komplizierten Charakter hatte, schlecht ausfiel. Als Hausaufgabe räumte sich Herr C. 15 Minuten vor jedem Arbeitstag ein, um sich auf seinen mutigen Persönlichkeitsanteil zu besinnen und das Szenario durchzugehen, dem Kollegen zu widersprechen. Diese Übung half ihm dabei, diese neue Möglichkeit mehr zum Teil seiner neuen, erweiterten und flexibleren Persönlichkeit werden zu lassen. Ein paar Tage nach dem Rollenspiel gab es eine Situation mit dem Kollegen, bei der Herr C. das nutzen konnte und es lief richtig gut. Er fühlte sich außergewöhnlich stark dadurch und es wirkte auf ihn so, als würden ihn die Kollegen dafür mehr respektieren. Die befürchtete Reaktion, belächelt und ausgegrenzt zu werden, trat nicht ein.
Er war nach den ersten 20 Sitzungen sehr zufrieden mit dem bisherigen Ergebnis der Therapie. Die allergrößten sozialen Ängste in Bezug auf Frauen hatte er noch nicht behandelt und es war ihm ein großes Anliegen, das noch zu tun. Während der Veränderungen der letzten Monate hatte er sich bereits mehr auf eine Bekanntschaft mit einer Kollegin eingelassen, die er vorher nur wenig wahrgenommen hatte. Er war einige Male nach der Arbeit mit einer Gruppe von Kollegen in ein Restaurant gegangen und jedes Mal saß er am Ende noch allein mit der Kollegin dort, nachdem die anderen gegangen waren. Er erlebte mit der Kollegin etwas, das er bis zu dem Zeitpunkt mit keinem anderen Menschen erlebt hatte: Mit ihr hatte er das Gefühl, über alles reden zu können, was ihm wichtig war. Abgesehen natürlich von dem Thema, was sich zwischen ihnen beiden entwickelte.
Er war sehr froh, dass er zu diesem Zeitpunkt noch in der Therapie war, um mit dem Psychologen über die ganze Situation reden zu können. Die Gespräche halfen ihm, seine ganzen Gefühle zu sortieren, seine Wünsche zu klären, seine eigenen Bedürfnisse zu verstehen und sich eine gute Strategie zurechtzulegen, um sich der Kollegin anzunähern. So ging es zum Beispiel darum, leichten Körperkontakt mit ihr herzustellen, um zu sehen, ob sie positiv reagierte. Indem er dieses komplett neue Thema beleuchtete, merkte er, dass seine Annahmen über Liebe, Beziehungen und die normale Entwicklung eines romantischen Kontaktes zwischen Mann und Frau aus vielen kindlichen Vorstellungen gespeist war, die der Realität entbehrte.
In dieser Phase war der Therapeut zurückhaltend, aber ermutigend. Er überließ es dem Klienten, seine Ziele und Schritte in der Annäherung an die Kollegin zu bestimmen. Er regte Herrn C. lediglich an, sich die Zeit zu nehmen, zu realisieren, wie extrem weit er gekommen war, weil er sogar mit der Idee spielte, eine Beziehung mit einer Frau anzugehen, was vor sechs Monaten undenkbar gewesen wäre.
Innerhalb der nächsten Wochen kam es tatsächlich dazu, dass die beiden ein Paar wurden, nachdem klargeworden war, dass die Kollegin auch in ihn verliebt war. Er nahm noch ein paar weitere Sitzungen beim Therapeuten in Anspruch. Da Herr C. total in diese Frau verliebt war, meinte der Therapeut, dass es sinnvoll sein könnte, diesen Zustand mit ihr einfach zu genießen. Herr C. solle das Projekt, sich zu hinterfragen und Veränderungen anzustreben, zwar nicht aufgeben, jedoch vorerst in den Hintergrund schieben. Herr C. hatte so viel in der kurzen Zeit erreicht und es blieben noch viele von der Krankenkasse genehmigten Sitzungen offen, sodass sie ruhig zu einem späteren Zeitpunkt Projekte wieder angehen könnten. Deshalb machte Herr C. einen weiteren Termin erst zwei Monate später aus, mit der Aussicht, dann je nach Situation zu entscheiden, wie sie weiter zusammenarbeiten wollten. Der Psychologe versicherte ihm, dass er jederzeit wieder Kontakt aufnehmen könnte und innerhalb von etwa zwei Wochen einen Termin bekommen könnte.